Ursprünglich umfasste die Ernährung des Menschen eine Vielzahl bitterstoffhaltiger Wurzelgemüse, Blattgemüse und Wildpflanzen. Die Nahrungsmittelindustrie verstand es, unsere ureigensten Geschmacksrichtungen auf süß, sauer, salzig zu konditionieren und auf „Lockstoffe“ zu prägen.
von Hans-Jörg Müllenmeister
In Coronazeiten sind emotionale Debatten über die Krise weniger elementar als eine intakte, kluge Lebensführung: die beginnt mit der gesunden Ernährung. Vitamine und Mineralien, auch sekundäre Pflanzenstoffe (Flavonoide) sind im Tagesgespräch. Über Bitterstoffe redet man kaum, haben sie doch keinen Nährwert. Noch fristen diese Verdauungshelfer in der Ernährungslehre ein Aschenputteldarsein. Bitter-, Ballast- und Schleimstoffe bilden jeweils eigene Wirkstoffklassen. Chemisch sehr unterschiedlich strukturiert, ist ihnen eins gemein: Sie fördern die Verdauung, schützen die Darmwände, verstärken die Produktion von Speichel und Magensaft, regen Bauchspeicheldrüse, Leber und Gallenblase an. Die wertvollsten Beiträge zur Verdauung liefern Pflanzen mit all ihren Bitterkräutern und Gemüsen.
Ballaststoffe ‒ überflüssig wie ein Kropf?
Neben den Nährstoffen nehmen sich „überflüssige“ Ballaststoffe kläglich aus. Was sollen diese unverdaulichen Überflusslinge, die den menschlichen Darm ungenutzt passieren? Gut für den stabilen Pflanzen- und Fruchtaufbau, aber machen die faserartigen Gebilde auch im Darm einen Sinn? Was bewirken wasserlösliche Ballaststoffe in unserem Körper? Indes binden sie z.B. die Gallensäure. Diese besteht u.a. aus 80% Cholesterin ‒ und dann geht’s ab in Richtung Ausgang. Dadurch sinkt der Cholesterinspiegel, weil davon weniger in den Blutkreislauf gerät. Sie helfen damit, Herzinfarkt und Arterienverkalkung vorzubeugen.
Die Lebensmittelindustrie: Räuber des Bitteren
Ursprünglich umfasste die Ernährung des Menschen eine Vielzahl bitterstoffhaltiger Wurzelgemüse, Blattgemüse und Wildpflanzen. Die Nahrungsmittelindustrie verstand es, unsere ureigensten Geschmacksrichtungen auf süß, sauer, salzig zu konditionieren und auf „Lockstoffe“ zu prägen. Man verbannte die bittere Komponente aus der Nahrung. Das ist der Grund, warum Endiviensalat, Radicchio oder Chicorée, die früher deutlich bitter schmeckten, heute kaum noch Bitterstoffe enthalten. In der Tat sind wir zunehmend übersäuert; als Folge von zu wenig Bitterstoffen in unserer Ernährung. Alles, was bitter schmeckt, stößt auf „schnalzende“ Zungen. Unsere wichtigen Schutz- und Heilstoffe wurden also gekappt.
Bitterstoffe, die Nützlinge
Übrigens schützen Bitterstoffe vor Gallensteinen, die dann entstehen, wenn Gallenflüssigkeit mit Cholesterin übersättigt ist. Außerdem moderieren Ballaststoffe den Blutzuckerverlauf und normalisieren so den Zuckerstoffwechsel. Als unverdauliche Stoffe verdünnen sie den Energiegehalt unserer Kost. Lösliche Ballaststoffe wirken als natürliche Quellstoffe, die Wasser binden und für ein langes Sättigungsgefühl sorgen. Sie binden Gifte und andere schädliche Substanzen, die mit der Nahrung in den Darm gelangen und fördern so deren Ausscheidung. Sie sind auch Nährboden für eine Reihe guter Darmbakterien und helfen damit zu einer gesunden Darmflora. Ballaststoffe können bis zum 100-fachen ihres Eigengewichtes an Wasser aufnehmen. Die unlöslichen dieser nützlichen Füllstoffe sorgen für ein zügiges, regelmäßiges und pünktliches Entleeren. Sie regen die Darmbewegung (Darmperistaltik) an. Inzwischen schreibt man den Füllstoffen eine schützende Wirkung zu, und zwar gegen Blinddarmentzündung, Darmkrebs, Hämorrhoiden und Divertikel-Krankheiten; Divertrikel sind Ausstülpungen der Darmschleimhaut.
Gute Ballaststoff-Lieferanten mit ihren gesundheitsfördernden Inhaltsstoffen
...sind Hülsenfrüchte wie Bohnen, Erbsen und Linsen. Eine regelrechte Ballaststoff-Bombe ist die Schwarzwurzel, die etwa 18% an „Ballast“ enthält. Es ist vor allem bei separater Aufnahme von Ballaststoffen wie Flohsamen oder Weizenkleie sehr wichtig, ausreichend Flüssigkeit zu trinken. Der Verdauungsbrei im Darm würde sonst durch den Wassermangel verhärten und eine Verstopfung eher begünstigen, statt ihr entgegen zu wirken. Was Hippokrates an bitteren Kräutern vorbeugend und heilend gegen vielerlei Beschwerden empfahl, empfindet die heutige Wissenschaft als Neuland.
Die Substanz Amarogentin in der Wurzel des gelben Enzians ist der bitterste bekannte Naturstoff überhaupt. Amarogentin ist noch 58 millionenfach verdünnt deutlich wahrnehmbar. Auch das Tausendgüldenkraut mit seinen Secoiridoid-Glykosiden hat sehr hohe Bitterwerte. Erst seit neulich weiß man, dass der in der Arnikapflanze enthaltene Bitterstoff Helenalin positiv auf das Herz wirkt; zudem beeinflusst er günstig Haut- und Schleimhautreizungen. Das gesunde „Unkraut“ Löwenzahn entsäuert, liefert Vitamin C und hebt die Stimmung. Besonders gut entsäuern die Löwenzahn-Pfahlwurzeln. In ihnen stecken viele Bitterstoffe wie Taraxacin, Inulin und Cholin. Löwenzahn speichert vor allem viel Kalium, das neben Magnesium und Calcium unentbehrlich ist für einen geregelten Herzschlag. Und das Schafgarbenkraut kann durch die anregenden Effekte seiner Bitterstoffe im Verein mit seinen ätherischen Ölen krampfartige Unterleibsbeschwerden lindern.
Bitterstoffhaltige Kräuter und Gemüse wirken als natürliche Fettverbrenner. Der Bitterstoff Vulgarin steckt im Beifuß, der Hopfen enthält Humulon und Lupulon. In der Wegwarte kommt Lactucopikrin vor, in Artischocken ist Cynarin zu Hause, im Eisbergsalat Lactucin und in der Grapefruit Naringin. Bitterstoffe finden sich vor allem in Heilpflanzen wie Engelwurz, Löwenzahn, Gänseblümchen, Schafgarbe, Tausendgüldenkraut, Olivenblatt und Enzian.
Dass sich die Psyche durch Bitterstoffe verbessert, dürfte für viele Menschen eine Überraschung sein: Bitterstoffe sind Mutmacher. Sie eignen sich aufgrund ihrer kräftigenden Eigenschaften für Menschen, die ihre Spannkraft verloren haben, lethargisch und antriebslos geworden sind, also für Menschen mit „Null-Bock-Stimmung“.
Über den eingeengten Geschmack
Wir verfügen über Geschmacksknospen, die unseren Gaumen und Zungenrücken bevölkern – mehr als bei jedem Tier. Vergessen Sie den so genannten regionalen Zungenatlas, wonach z.B. Süßes an der Spitze und Salziges und Saures den Zungenrändern zugedacht sind. Tatsache ist: Überall dort, wo Geschmacksknospen sitzen, sind auch sämtliche Geschmacksrichtungen erfassbar.
Der bittere Geschmacksanteil ist noch ein Relikt aus der Steinzeit. Ja, es ist der Warner vor giftigen Pflanzen, die meist bitter schmecken. Die entsprechenden Sinneszellen für bitter, besiedeln den hinteren Bereich der Zunge. Je länger wir leben, um so „geschmackloser“ werden wir. Im Kindesalter haben wir noch gut 9.000 Geschmacksknospen; im Greisenalter verfügen wir nur noch über rund 4.000 dieser Rezeptoren. Die „Geschmacksblindheit“ kann auch durch falsche Ernährung entstehen. Die Geschmacksknospen für „bitter“ sind 10.000-mal empfindlicher als jene für „süß“; so kann man die meist bitteren giftigen Substanzen besonders gut wahrnehmen.
Das Geheimnis der Bitterstoffe
Der Darm mit seinen empfindlichen Schleimhäuten macht 80% unseres Immunsystems aus. Ist der Verdauungstrakt überlastet, und gerät die Darmflora aus dem Gleichgewicht, drohen Beschwerden wie Darmentzündungen, Durchfall und Reizdarmsyndrom oder gar schwere Darmleiden wie Zöliakie, Morbus Crohn und Darmkrebs. Bitterstoffe regen die gesamte Verdauungstätigkeit spürbar an. Die Magen-Darmbewegungen werden gesteigert, die Magenentleerung wird beschleunigt. Bitterstoffe beleben die Ausschüttung von Gallen- und Pankreassaft, und sie verbessern die Verdauung von Eiweißen, Kohlenhydraten und Fetten.
Atmosphärenforscher seien nicht angesprochen, aber notorische Trompeter von Säckingen aufgepasst: Verdauungsfördernde Bitterstoffe vermindern Meteorismus (übermässige Darmwinde) und hemmen Gärungs- und Fäulnisprozesse im Darm! Mehr noch: durch eine bessere Resorption von Vitamin B12 aus dem Verdauungstrakt unterstützen Bitterstoffe sogar die Blutbildung. Sie fördern außerdem die Resorption wertvoller fettlöslicher Vitamine A, D, E und K sowie von Eisen.
Basenbildner und Entschlacker im Körper
Die Übersäuerung (Azidose) ist eine verbreitete Stoffwechselstörung, eine typische Zivilisationskrankheit. Sie hat Optionen auf viele Beschwerden, wie Rheuma, Gicht, Müdigkeit, Nervosität, Abwehrschwäche, mangelhafte Durchblutung, Neurodermitis und Allergien.
Bitterstoffe sorgen dafür, dass der Säureüberschuss im Gewebe des Körpers abgebaut und ausgeschieden werden kann. Dass bittere Kräuter basisch sind, machen sie umso wertvoller. Sie stellen das Säure-Basen-Gleichgewicht wieder her. Vorteilhaft ersetzen Bitterstoffe zweifelhafte Säureblocker (Antazida), die auftretende Symptome nur verdecken, indes aber die Ursache nicht bekämpfen. Außerdem wirken Bitterstoffe als ausgezeichnete Entschlackungsmittel. Sie fördern auf sanfte Weise das Ausscheiden von Giftstoffen, aber auch von Schlacken und Verschleimungen. Bei Fastenkuren über mehrere Wochen werden sämtliche Verdauungsorgane durch die bitteren Wirkstoffe gereinigt und regeneriert. Sie arbeiten wie „Schleimhaut-Expander“ der Verdauungsorgane: Zuerst ziehen sie sich zusammen und dehnen sich dann wieder aus. Gifte, Stoffwechselschlacken, Viren und Bakterien sowie Pilze können so leichter abtransportiert und ausgeschieden werden. Nur eine gesunde Verdauung absorbiert Nähr- und Vitalstoffe perfekt! Jede einzelne Zelle wird optimal versorgt. Das steigert das Wohlgefühl des Körpers.
Als mein Herz aus dem Rhythmus geriet (autobiografisch)
Eine krankhafte Darmflora kann sogar auf die Herzmotorik einwirken. Das erfuhr ich am eigenen Leib. Es gab einen signifikanten Zusammenhang zwischen meinem unregelmäßigen Herzrhythmus und den quälenden, heftigen Flatulenzen (Darmwinde), die sich immer kurz nach dem Essen Luft verschafften. Das absolute Paradies für eine billionenfache Bakterien-Besiedelung ist bekanntlich der Dickdarm. Vielleicht gab es „unanständige“ Mikroben, die als Stoffwechselprodukt heftige Gasbomben ausstießen. Schlimm war, dass der ständig aufgeblähte Bauch schmerzhaft über das Zwerchfell auf Herz und Lunge drückte (Meteorismus).
Der mikrobiologische Laborbefundbericht des mobilen „Darm-Sitzmöbels“, sonst Stuhlgang genannt, förderte Erstaunliches zu tage: Durchaus angenehme Besiedler des Dickdarms wie Escherichia colides und Enterococcus spec. waren im Dickdarm eher dünn gesät. Diesen Mangel konnte ich durch Gaben von probiotischen Bakterienstämmen beseitigen.
Der volle therapeutische Erfolg gelang aber erst mit den Bitterstoffgemüsen Rucola und Radicchi (Bitterstoffe Lactucin und Lactucopikrin) in Bioqualität. Die Gasentwicklung war wie weggeblasen! Das Bauchdrücken ging also tatsächlich zurück und merkwürdig: Mit der Zeit verschwand auch die Herzrhythmusstörung. Anscheinend war der ständige Druck aufs Herz der eigentliche Auslöser für meine Herzrhythmusstörung. Erst neulich fand ich diesen Zusammenhang in der medizinischen Fachliteratur bestätigt. Die Weißkittel sprechen da vom Roermheld-Syndrom. Mein ungläubiger Magen-Darmtrakt-Spezialist (Gastroenterologe) meinte zu meiner „Eigentherapie“, dass sie sich eher blähend auswirken müsste. Vielleicht hatte er bei seiner Betrachtung die Kraft der Bitterstoffe und der sekundären Pflanzenstoffe eines Frischgemüses unterschätzt. Eine bayerische Volksweisheit sagt ja schon: „Wenn’s Arscherl brummt, ist Herzerl g'sund.