WHO: Es ist entscheidend wichtig, dass wir uns in den kommenden Wochen und Monaten in Europa und anderswo mit den Herausforderungen für die psychische Gesundheit der Bevölkerung auseinandersetzen.

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Mit beispiellosen Anstrengungen zur Verlangsamung und Unterbrechung der Übertragung von COVID-19 gewinnen wir Zeit und entlasten unsere Gesundheitssysteme, doch die sozialen und ökonomischen Kosten sind beträchtlich. Vor allem räumliche Distanz und Isolation sowie die Schließung von Schulen und Arbeitsplätzen stellen uns vor große Herausforderungen, da sie Auswirkungen auf unsere Vorlieben, unsere Bewegungsfreiheit und unsere sozialen Kontakte haben.

In einer solchen Zeit ist es vollkommen natürlich, dass wir alle unter Stress, Sorgen, Ängsten und Einsamkeit leiden. Bei der WHO messen wir den Auswirkungen von COVID-19 auf unsere psychische Gesundheit und unser seelisches Wohlbefinden große Bedeutung bei. Deshalb steht diese Thematik im Mittelpunkt unserer heutigen Diskussion. 

Doch davor gestatten Sie mir bitte, Ihnen einen kurzen Überblick über die aktuelle Lage in Bezug auf den COVID-19-Ausbruch in der Europäischen Region der WHO zu geben.

Epidemiologische Situation in der Europäischen Region der WHO

Seit unserer letzten Verlautbarung vor einer Woche hat sich die Zahl der Fälle von COVID-19 und der daraus resultierenden Todesfälle in unserer Region verdreifacht. Besonders stark fiel die Zunahme in vier der fünf Länder mit den höchsten Fallzahlen (Spanien, Frankreich, Deutschland und Schweiz) aus.

Bisher wurden in der Europäischen Region der WHO insgesamt 220 000 COVID-19-Fälle gemeldet, davon 11 987 mit tödlichem Ausgang. Dies bedeutet, dass etwa sechs Zehntel aller Fälle weltweit und sieben Zehntel aller Todesfälle in unserer Region verzeichnet wurden. Nach aktuellem Stand hat sich die Zahl der weltweit gemeldeten Fälle auf über 400 000 erhöht.

Aus den verfügbaren Berichten wissen wir, dass etwa ein Zehntel aller Infektionen auf das Gesundheitspersonal entfallen; viele andere befinden sich in Quarantäne, was wiederum die Handlungsfähigkeit unserer Gesundheitssysteme beeinträchtigt. Dies bereitet uns besondere Sorgen.  Mit Stand von gestern hatte Italien insgesamt  6200 Infektionsfälle bei Gesundheitsfachkräften gemeldet.

Wir alle müssen uns aktiv darum bemühen, diese mutigen Menschen so gut wie möglich zu schützen. Mit ihrem unermüdlichen Einsatz tragen sie dazu bei, Sie zu schützen und zu versorgen. Ihre Mehrbelastung in dieser Zeit können wir kaum ermessen, doch sie bringen enorme Opfer zum Wohl der gesamten Gesellschaft.

Doch obwohl die Lage weiterhin sehr ernst ist, gibt es auch erste ermutigende Anzeichen. So ist in Italien, dem Land mit den höchsten Fallzahlen in unserer Region, erstmals ein leicht verlangsamter Anstieg zu verzeichnen, auch wenn es noch zu früh ist, von einem Höhepunkt der Pandemie in dem Land zu sprechen. Bald werden wir in der Lage sein, zu bestimmen, in welchem Maße die in vielen Ländern ergriffenen Maßnahmen Wirkung zeigen. 

In dieser Situation gilt es, unseren Optimismus zu bewahren und unsere körperliche und psychische Gesundheit zu erhalten, denn dies spielt eine entscheidende Rolle bei der gemeinsamen Bewältigung dieser Herausforderung.

Unser persönlicher Beitrag

Jeder einzelne von uns ist Teil einer Gemeinschaft. Es liegt in unserer menschlichen Natur, für einander zu sorgen, wie wir umgekehrt auch soziale und emotionale Unterstützung bei anderen suchen. Die einschneidenden Folgen der COVID-19-Pandemie stellen für uns alle eine Chance dar.

Eine Chance, sich nach unseren Mitmenschen zu erkundigen, anzurufen oder zu chatten und umsichtig und sensibel mit den individuellen seelischen Bedürfnissen derer umzugehen, für die wir sorgen. Unsere Ängste und Sorgen sollten anerkannt und nicht ignoriert werden, und sie sollten von Mitbürgern, Gemeinschaften und Staat besser verstanden und berücksichtigt werden.

Es ist entscheidend wichtig, dass wir uns in den kommenden Wochen und Monaten in Europa und anderswo mit den Herausforderungen für die psychische Gesundheit der Bevölkerung auseinandersetzen:

  • durch Verteilung zeitnaher, verständlicher und zuverlässiger Informationen an alle, von den jüngsten bis zu den ältesten Mitgliedern der Gesellschaft;
  • durch psychologische Unterstützung für die in vorderster Linie tätigen Einsatzkräfte und für die Angehörigen von Verstorbenen;
  • durch Aufrechterhaltung von Versorgung und Behandlung für Menschen mit kognitiven, psychischen und psychosozialen Behinderungen; und
  • durch den Schutz von Menschenrechten, insbesondere für Gruppen, deren Rechte oft übersehen oder verletzt werden, wie Migranten und Flüchtlinge, Häftlinge, Insassen von anderen geschlossenen Einrichtungen wie Psychiatrien und sozialen Institutionen sowie Menschen mit Behinderungen.

Die WHO und ihre Partnerorganisationen haben eine Anzahl spezifischer Informationsmaterialien über COVID-19 zusammengestellt, um die Länder und ihre Bürger über diese Art von psychischer und psychosozialer Unterstützung zu informieren, u. a. in Form von Informationsveranstaltungen und begleitende Infografiken über soziale Stigmatisierung sowie die Bedürfnisse der Allgemeinbevölkerung, des Gesundheitspersonals, der Menschen in Langzeitpflege und anderer Gruppen. Diese Materialien werden inzwischen in vielen Ländern der Region übersetzt und verteilt.  Darüber hinaus bereiten die WHO und ihre Partnerorganisationen auch die Produktion eines Kinderbuchs für die Altersgruppe der 4- bis 10-Jährigen sowie die Erstellung von Versionen von Tools der WHO wie „Psychological First Aid“ und „Problem Management Plus“ vor, die über digitale Plattformen bereitgestellt werden können.

Die Frage, die wir alle uns stellen müssen, ist, wie wir mit Stresssituationen umgehen, die so schnell über unser Leben und unsere Gesellschaft hereinbrechen. Hier können wir aus der beachtlichen Stärke, Widerstands- und Kooperationsfähigkeit schöpfen, wie wir Menschen glücklicherweise besitzen.

Ich persönlich bemühe mich, das zu beherzigen, was mir in der Vergangenheit immer geholfen hat, wenn ich zur Ruhe kommen wollte. So kann das Erlernen und Einüben einfacher Entspannungstechniken (wie Atemübungen, Muskelentspannung oder Achtsamkeit) sehr wirksam zur Linderung körperlicher und psychischer Belastungen beitragen. Ebenso versuche ich, belastende Gedanken umgehend anzuerkennen und mit den Menschen in meinem Umfeld darüber zu sprechen. Diese haben vielleicht ähnliche Sorgen, und vielleicht gelingt es uns ja gemeinsam leichter, Lösungen zu finden. Versuchen Sie, positiv zu bleiben.

Mir ist klar, dass ich als Ehemann, Vater, Kollege und Führungskraft in der jetzigen Situation in besonderem Maße gefordert bin, Empathie, Solidarität und emotionale Intelligenz an den Tag zu legen und mit gutem Beispiel voranzugehen – getreu der Maxime, niemanden zurückzulassen. 

Letztendlich kann es nur eine Lösung geben: mit Menschenfreundlichkeit und Nächstenliebe, aber unter Wahrung räumlicher Distanz.