Ayurveda – klassische indische Heilkunde und ältestes Medizin-System. Die mündliche Überlieferung wird auf mindestens 5000 Jahre geschätzt. »Gleichgewicht« ist ein zentraler Begriff im Ayurveda und gleichbedeutend mit »Gesundheit«.

 

Ayurveda2), die altindische Lehre von der Heil-Kunst, ist das älteste bekannte Medizin-System der Menschheit und, zusammen mit der Tibetischen Medizin und der Chinesischen Medizin, das beste und bewährteste. Die mündliche Überlieferung wird auf mindestens 5000 Jahre geschätzt; die erste schriftliche Aufzeichnung ist 4000 Jahre alt: um 2000 v. Chr. werden im Rigveda Operationen, Prothesen und Heilpflanzen erwähnt. Im Atharvaveda wird das medizinische Wissen weiterentwickelt; schließlich wird es im Ayurveda von den ursprünglichen vier vedischen Texten (Rigveda, Yajurveda, Samaveda, Atharvaveda), den ältesten erhaltenen Schriften der Menschheit, abgetrennt.

 

Als früheste ayurvedische Ärzte (Vaidya) gelten Dhanvantari (?) und Bharadvaja (um 1500 v. Chr.). Sein Schüler Atreja Punarvasu (um 1500 v. Chr.) führte eine Medizin-Schule; einer seiner Schüler, Agnivesa, verfaßte die erste rein ayurvedische Schrift, das Agnivesa-Tantra (Tantra: Gewebe, Textur). Um 1000 v. Chr. beschreibt der Chirurg Sushruta, ein Militärarzt, der Amputationen, plastische Chirugie und den Kaiserschnitt beherrschte, in der Sushruta-Samhita auf Palmblättern in 184 Kapiteln 1120 Krankheiten sowie 700 Heilpflanzen, 57 tierische und 64 mineralische Medikamente (Samhita: Sammlung). Der Chirurg und Kinderarzt Jivaka Kumar Baccha, ein Zeitgenosse und Freund Buddhas, entwickelte im 6. Jhdt. v. Chr. die Akupressur, eine spezielle Massage-Technik entlang von Energie-Bahnen („Meridianen“). Der älteste heute noch im Original erhaltene Text, die Caraka-Samhita, stammt aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert von dem Gelehrten Caraka. Sein Werk gilt als das vollständigste und wichtigste.

 

Zwischen 400 und 500 n. Chr. schließlich faßte der Gelehrte Vagbata die genannten Schriften mit Elementen tibetischer und chinesischer Medizin in der Ashtanga-Samgraha zusammen. Die Gelehrten Bhattara Haricandra, Swami Kumara, Jejata und Cakrapani redigierten die Caraka-Samhita zwischen 400 und 1100 n. Chr. Sushruta-Samhita, Caraka-Samhita und Ashtanga-Samgraha sind die drei grundlegenden Standard- und Referenz-Werke des klassischen Ayurveda; sie müssen von Vaidya-Kandidaten in der originalen Sprache (Sanskrit) im originalen Wortlaut in Theorie und Praxis studiert werden. Eine Ausbildung zum Medical Doctor of Ayurveda (Vaidya) dauert neun Jahre, das Grundstudium allein fünfeinhalb Jahre.

 

Ayurveda und Yoga

Zwischen Ayurveda und Yoga3) besteht eine enge Verbindung; sie haben gemeinsame Wurzeln: den Veda4) oder die Veden. So heißt es in der Caraka-Samhita übereinstimmend mit der Hatha-Yoga-Pradipika5) und den Yoga-Sutras6) des Gelehrten Patanjali7), daß Gesundheit die Bedingung für die Verwirklichung der nach den Veden und nach den Upanischaden8) vier Ziele im Leben des Menschen (Purushartha) ist: materielles Wohlergehen (Artha), sinnliche Erfüllung (Kama), rechtes Leben / richtige Lebensführung (Dharma) und spirituelle Befreiung / Erlösung (Moksha). »Gesundheit« wird definiert als Zustand körperlichen Wohlbefindens, geistigen Friedens und sozialen Wohlergehens, »Leben« als Fortbestand der Bewußtheit, beständiger Fluß von Energie, Erhaltung des physischen Körpers. Dieser Zustand und diese Ziele werden erreicht durch die tägliche, lebenslange Praxis der Methoden und Techniken der Wissenschaft des Yoga.

 

Der Yoga ist eines der sechs orthodoxen philosophischen Systeme (Saddarshana) des klassischen Indien (Samkhya, Yoga, Nyaya, Vaisheshika, Vedanta, Mimamsa). Yoga ist ein ganzheitliches, exaktes, logisches, wissenschaftliches System, eine Universal-Wissenschaft (scientia universalis), die mittels physischer, psychischer und mentaler Techniken und Methoden zur körperlichen, geistigen und seelischen Vollendung sowie intellektuellen und charakterlichen Blüte des Menschen und zur totalen Erkenntnis der absoluten Wahrheit führt („Erwachen“, „Erleuchtung“).

 

Die acht Stufen des „königlichen Yoga“ (Raja-Yoga, auch Astanga-Yoga) sind nach den Yoga-Sutras des Gelehrten Patanjali (2. Jhdt. v. Chr.?): Yama (Ethik; karmisch korrektes und soziales Verhalten: Gewaltlosigkeit [ahimsa], Wahrhaftigkeit [satya], Enthaltsamkeit [asteya, aparigraha, brahmacharya]), Niyama (Selbstdisziplin/Willensschulung [tapas], Hygiene [shauca], Achtsamkeit [svadhyaya] Genügsamkeit [santosha], Gottvertrauen [ishvara pranidhara]), Asana (wörtl.: „Sitz“; Körperhaltung, Körperstellung), Pranayama („Kontrolle des Prana“; Atemschulung), Pratyahara („Zurücknehmen“ der Aufmerksamkeit von den Sinnesorganen bzw. Sinneseindrücken), Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und Samadhi (Versenkung, „Erleuchtung“).

 

Die zweite Stufe (Niyama) enthält u. a. die Reinigung und Pflege des Körpers (Hygiene). Die Reinigungs-Techniken (Shatkriyas) der Körper-Öffnungen und des Körper-Inneren im Hatha-Yoga sind zahlreich und über Jahrtausende perfektioniert; auf ihnen beruhen unter anderem die totale Gesundheit und extreme Langlebigkeit der authentischen Himalaya-Yogis. Einige auch für westliche Menschen geeignete Techniken sind sehr gut beschrieben u. a. bei den beiden westlichen Autoren André van Lysebeth9) und Boris Sacharow10) und dem indischen Yogi B. K. S. Iyengar11). (Die Bedeutung und Heiligkeit des physischen Körpers des Menschen als „Tempel Gottes“ haben auch zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten wie ein deutscher Dichter-Philosoph und ein amerikanischer Rock-Musiker erkannt: „Es gibt nur einen Tempel im Kosmos – das ist der menschliche Körper.“ [Novalis12)] und: „The body is a sacred temple.“ [Ted Nugent13)])

 

Das geistige, theoretische Fundament des Ayurveda ist die klassische indische Philosophie, das älteste und höchst entwickelte Philosophie-System der Menschheit. Ziel des Ayurveda ist die optimale Nutzung des geistigen Potentials des Menschen durch Entfaltung, Entwicklung und Vollendung des göttlichen Bewußtseins, des Selbst des Menschen. (Der ayurvedische Begriff für Gesundheit ist swastha: „Im Selbst gegründet sein.“: Identität und Heilsein.) Voraussetzung dafür ist ein langes Leben ohne Krankheit und Leid in dem „Heiligen Tempel“ des menschlichen Körpers

 

Diagnose: Fragen, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen

Die Diagnose im Ayurveda wird, wie auch bei der Traditionellen Chinesischen, Klassischen Tibetischen und Klassischen Arabischen Medizin, auf der Grundlage des Befragens, des Hörens (der Stimme und des Atems), des Sehens (Iris-, Zungen und Antlitz-Diagnose, Farbe der Haut, des Urins und des Stuhls), des Riechens (des Atems, des Körpergeruchs und der Ausscheidungen), des Schmeckens (des Urins und des Schweißes), des Fühlens (des Pulses) und des Betastens (des Körpers) des Patienten durch den ayurvedischen Heilkundigen (Arzt) erstellt.

 

Die Diagnose im Ayurveda gibt Auskunft über die momentane subjektive Befindlichkeit, die individuelle mentale, psychische und physische Konstitution des Patienten, sein Verhalten, seine Umstände und sein Umfeld sowie sein Karma14), die alle zu seinem Zustand beitragen. Die Therapien des Ayurveda zielen zunächst darauf ab, Ungleichgewicht wieder ins Lot und Disharmonien wieder in Einklang zu bringen sowie Entgleisungen wieder zu integrieren und Schadstoffe auszuleiten. Danach wird eine dauerhafte Stabilisierung dieses Zustandes angestrebt. Als holistisches (ganzheitliches) Medizin-System ist Ayurveda vor allem auf Prophylaxe (Vorsorge, Fürsorge), also Erhaltung der Gesundheit und Verhinderung von Krankheit, ausgerichtet

»Gleichgewicht« ist ein zentraler Begriff im Ayurveda und gleichbedeutend mit »Gesundheit«. In diesem Zustand erfährt der Mensch seine Ganzheit, sein Heilsein, und die Verbundenheit mit allem, was ist. Das wird von ihm als sichere Geborgenheit, Freisein von Angst, Schmerz und Leid, innere Ausgewogenheit, vollkommene Zufriedenheit, dauerhaftes Wohlbefinden erlebt. Nach ayur-vedischer Definition ist ein Mensch dann gesund, wenn seine Physiologie (Atmung, Kreislauf, Stoffwechsel, Verdauung, Ausscheidung) und seine Psychologie (Gemüt und Geist: Fühlen, Wollen, Streben, Denken, Reden, Handeln) im Gleichgewicht und in Resonanz mit dem Kosmos sind. Das ist der Zustand der »Glückseligkeit« – des eigentlichen und einzigen Zieles des Lebens.

Die altindischen Heilkundigen wußten, daß jeder Mensch potentiell in der Lage ist, durch Beachtung und Befolgung der kosmischen Naturgesetze Gesundheit zu erhalten oder wieder zu erlangen. Nach ayurvedischer Auffassung entsteht Krankheit nur durch Verstöße gegen Naturgesetze (von karmischen Ursachen abgesehen): falsche Ernährung, ungesunde Lebensweise, schlechte Gewohnheiten, negative Gefühls- und Denkmuster, Dystreß und andere Umwelteinflüsse. Dadurch geraten die natürlichen energetischen Regulations- und Steuerungs-Mechanismen des Menschen aus dem Gleichgewicht, und es entstehen Fehlfunktionen. Das nennen wir »Krankheit«.

 

Tridosha – die Lehre von den drei energetischen Grundkräften

 Alle Funktionen eines lebenden Organismus werden nach ayurvedischer Auffassung von drei energetischen Grundkräften gesteuert: den drei Doshas. Die Doshas werden Vata, Pitta und Kapha genannt. Die Lehre von diesen drei Prinzipien heißt Tridosha („drei Doshas“). Nach der altindischen Philosophie sind die drei Doshas aus den fünf Grund- und Haupt-Elementen Äther, Luft, Feuer, Wasser und Erde entstanden; diese sind in den drei Kräften jeweils in unterschiedlicher Zusammensetzung vertreten. Die Doshas wiederum sind in unterschiedlichen Mischungen und Anteilen in jedem Individuum vertreten, wobei jeweils ein Dosha überwiegt und dominiert; Reinformen eines einzigen Doshas kommen extrem selten vor. (Das ist natürlich symbolisch zu verstehen; »Elemente« und »Doshas« repräsentieren verschiedene materielle und ideelle Prinzipien)

Jedes der drei Doshas wird noch einmal in je fünf „Sub-Doshas“ unterteilt; das erlaubt eine genauere Zuordnung einzelner Körper-Funktionen und Seelen-Zustände des Erkrankten und so eine präzisere Diagnose und effizientere Therapie. Natürlich geschieht das nicht formalistisch-mechanistisch. Denn jeder Mensch ist einzigartig; eine starre Einordnung in Kategorien ist deswegen nicht nur unmöglich, sondern wäre auch unsinnig. Dennoch sind bestimmte Klassifizierungen möglich (z. B. Konstitution, Temperament und Charakter). Der ayurvedische Arzt nutzt diese Zuordnungen als Informations-Quelle und Grundlage für Diagnose und Therapie.

 

Jeder Mensch vereint in sich diese drei Kräfte oder Energien, wobei deren Ausprägung, Kombination und Verhältnis individuell verschieden sind. Die Verteilung und Mischung der drei Doshas bestimmen unsere psychophysische Konstitution, das heißt, die dominierenden Doshas prägen das äußere körperliche Erscheinungsbild (Habitus / Phänotyp), die Funktionsweise der inneren Organe und des Immun-Systems, die Art, den Umfang und das Niveau des intellektuellen Potentials (Talent) sowie das individuelle Seelenmuster (Temperament). Entsprechend den Eigenschaften und Wirkungen der drei Doshas kann jeder Mensch einem Vata-, Pitta- oder Kapha-Typus zugeordnet werden, wobei allerdings die Reinform eines Typus sehr selten vorkommt. (Deshalb lassen sich nicht nur die drei Reinformen, sondern insgesamt sieben Typen unterscheiden)

 

Die Doshas wirken in jeder einzelnen Körperzelle und damit auch in allen Geweben und Organen; und jedes Dosha hat neben einer körperlichen auch eine seelische und eine geistige Funktion. Wenn das Zusammenspiel der drei Doshas reibungslos funktioniert, ist der Mensch gesund. »Krankheit« entsteht durch ein dauerhaftes Ungleichgewicht der Doshas. Der Ayurveda kennt drei allgemeine, prinzipielle Faktoren, die die drei Doshas aus dem Gleichgewicht bringen: 1. Überstimulation (Überanstrengung, Überforderung, Überreizung) oder fehlende Stimulation der Sinnes-Organe; 2. Fehlverhalten beim Gebrauch der Sinne und des Geistes, Mißachtung der Bedürfnisse des Körpers; 3. Leben gegen die natürlichen Bio-Rhythmen (Tages-, Nacht-, Jahres- und Lebens-Rhythmen).

 

Erfahrungsgemäß gibt es sieben Stufen oder Grade des Ungleichgewichtes; dementsprechend entwickeln sich Krankheiten in sieben Schritten. Auf der sechsten Stufe liegt eine schwere akute Störung der Gesundheit, eine ernste Erkrankung vor, auf der siebenten Stufe ist eine Krankheit in ihr chronisches Stadium übergegangen. Hauptanliegen des ayurvedischen Arztes ist es daher, mit Hilfe des Diagnose-Verfahrens frühzeitig Symptome zu erkennen u. durch therapeutische Maß-nahmen dem Ausbruch einer Krankheit u. ihrem Übergang in das chronische Stadium vorzubeugen.

 

Therapie: Entgiftung, Regeneration, Chrono-Hygiene, Sinnes-Training, Ernährung

Die ayurvedischen Behandlungen kommen einer umfassenden, ganzheitlichen Lebens-Therapie gleich, denn sämtliche Verfahren zielen darauf ab, einen körperlichen, seelischen und geistigen Umstimmungs-, Entwicklungs- und Wachstums-Prozeß einzuleiten und durchzuführen. In Kenntnis der Tatsache, daß viele Erkrankungen psychosomatischer15) Natur sind, wird im Ayurveda nicht nur die Wiederherstellung der Ausgewogenheit der drei Doshas angestrebt, sondern darüber hinaus die Entfaltung, Entwicklung und Vollendung des körperlichen, seelischen und geistigen Potentials des Individuums. So werden Außen und Innen integriert, die Balance stabilisiert, die Vitalität erhöht.

Die fünf Säulen der Ayurveda-Therapie sind Reinigung und Entgiftung (Panchakarma), Regeneration und Restauration (Erholung und Wiederherstellung), Chrono-Hygiene, Sinnestraining und Ernährung. Panchakarma ist die Voraussetzung für alle weiteren Maßnahmen und umfaßt eine individuell abgestimmte Diät, das regelmäßige Trinken heißen Wassers, Förderung und Stärkung der Verdauung durch bestimmte Nahrungsmittel und natürliche Arzneimittel (Medikamente) sowie spezielle Massagen (Abhyanga). Alles zusammen bewirkt die Ausleitung und Ausscheidung der infolge des Ungleichgewichtes der drei Doshas entstandenen und angehäuften Giftstoffe (Ama).

Regeneration und Restauration im ayurvedischen Sinn ist die Wiederherstellung und Stabilisierung des Gleichgewichtes der drei Doshas durch bestimmte Übungen und entsprechende Lebensweise. Die Übungen umfassen regelmäßige Bewegung in Form natürlicher Aktivitäten (Wandern, Schwimmen, Spielen), Yoga-Asanas, den yogischen „Sonnengruß“ (Suryanamaskar16)), Meditation und Atem-Übungen. Die Lebensweise beinhaltet Abhärtung, typgerechte Ernährung und geordneten Tagesablauf (Chrono-Hygiene) unter Beachtung der natürlichen Rhythmen. (Dem entspricht in der westlichen Naturheilkunde prinzipiell die Kneipp-Kur mit ihrer Hydro-, Ernährungs-, Bewegungs-, Ordnungs-Therapie; dazu kommt noch die Phyto-Therapie, die es im Ayurveda auch gibt.) In der Regeneration und Restauration sind Chrono-Hygiene und Ernährung also schon mit eingeschlossen.

yurvedische Chrono-Hygiene beruht auf dem Wissen von der Analogie (Entsprechung) des Menschen (Mikrokosmos) und der Welt (Makrokosmos). So beeinflussen die drei Doshas nicht nur direkt und unmittelbar den Menschen, sondern unterliegen selber wiederum den Auswirkungen der sich wiederholenden Rhythmen der Tages-, Jahres- und Lebenszeiten. Was die indischen Heilkundigen schon vor Jahrtausenden wußten, bestätigt die moderne Natur-Wissenschaft der Chrono-Biologie, ein Fachgebiet der Biologie, das die Gesetzmäßigkeiten im zeitlichen Ablauf von Lebensvorgängen erforscht. Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Chrono-Biologie gehört, daß ein Zusammenhang zwischen den natürlichen kosmischen Rhythmen und den Biorhythmen des Menschen, seinen periodisch wechselnden körperlichen, seelischen u. geistigen Zuständen, besteht.

Diesem Wechsel sind alle biologischen Systeme – Pflanzen, Tiere, Menschen – unterworfen. Damit einher geht eine ständige Anpassung an wechselnde Bedingungen, so daß alles Lebendige einem stetem zyklischen Wandel unterliegt. Das Wissen um diese Prozesse bildet die Grundlage der ayurvedischen Chrono-Hygiene. Indem der Mensch sich an den Gesetzen der natürlichen Rhythmen orientiert, stabilisiert sich das Gleichgewicht seiner inneren energetischen Kräfte, der drei Doshas. Eine natürliche Lebensweise bringt den Menschen in Einklang mit den Zyklen der Natur.

Die ayurvedische Chrono-Hygiene unterscheidet Rhythmen und Zyklen des Tages, des Jahres und des Lebens. Alle drei werden in drei Abschnitte unterteilt, die den Eigenschaften der drei Doshas Vata, Pitta und Kapha entsprechen. Um alle Zyklen und Stadien des Lebens in optimaler Harmonie und Gesundheit zu er-leben und unsere natürliche Lebensspanne auszuschöpfen, müssen wir lediglich die kosmischen Naturgesetze beachten und befolgen. Ayurveda, die vollständige, exakte Wissenschaft vom langen Leben, kennt und lehrt die Mittel und Methoden der Verjüngung und des langen Lebens. 100 Jahre sind im Ayurveda die normale, 120 Jahre die optimale Lebenserwartung des Menschen. Nach ayurvedischer Auffassung ist Altern die Folge eines „Irrtums des Intellekts“.

Unterschätzt wird oft das Sinnes-Training. Mit Hilfe unserer fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen) orientieren wir uns nicht nur in der äußeren Welt, sondern organisieren wir auch unsere Gedanken und Gefühle. Das optimale Funktionieren der Sinne trägt also wesentlich zur Gesundheit bei. Deswegen stellt das ayurvedische Training der Sinne eine weitere Maßnahme dar, körperliche, seelische und geistige Vorgänge über Sinneseindrücke positiv zu beeinflussen. Mit Hilfe von Farben, Klängen, Düften, Geschmack und Berührung werden ausgleichende Impulse gesetzt, die die drei Doshas stabilisieren oder, im Falle eines Ungleichgewichtes, harmonisieren.

„Last but not least“: eine naturgemäße, typgerechte Ernährung. Die richtigen Lebensmittel, zum geeigneten Zeitpunkt, in der passenden Kombination und in kleinen Mengen in Ruhe eingenommen, wirken wie Medizin. Im Ayurveda kommt den Lebensmitteln die Bedeutung von Arzneimitteln zu, denn Medikamente werden erst dann verordnet, wenn die Nahrung allein nicht mehr heilsam wirkt. Ebenso wichtig ist die optimale Verdauung der Nahrung, denn auch gesunde Lebensmittel können die Lebenskraft schwächen, wenn sie nicht vollständig verdaut werden.

 

Im Ayurveda wird den »Kalorien« nicht die geringste Beachtung geschenkt. Nach ayurvedischer Auffassung ist »Essen« in erster Linie ein sinnliches Erlebnis, das nicht von Kalorien-Tabellen beeinflußt werden soll und kann. Der Wert der Nahrung richtet sich vielmehr nach der individuellen Verträglichkeit der Speisen und den momentanen Bedürfnissen des Organismus sowie nach persönlichen Vorlieben und Abneigungen. Deswegen sind Nahrungsmittel, die Sie mit Lust genießen, für Ihren Körper „die beste Medizin“. (Das bezieht sich aber nicht auf „Junkfood“, sondern auf natürliche Lebensmittel. Die Vorliebe für und das Verlangen nach „Junkfood“ ist künstliche Prägung und Suchtverhalten, aber kein sinnlicher Genuß und keine sinnliche Lust.)

 

Den größten Einfluß auf die drei Doshas üben die Rasas, die Geschmacksrichtungen, aus. Im Ayurveda werden nicht nur fünf, sondern sechs Geschmacksrichtungen unterschieden: süß, sauer, salzig, scharf, bitter und herb oder „zusammenziehend“ (adstringierend). Jede Mahlzeit sollte ideal-erweise alle sechs Rasas enthalten, denn dann ist die ausgleichende Wirkung auf die drei Doshas (Vata, Pitta, Kapha) am ehesten gewährleistet. (Nähere Angaben bitte der Fachliteratur entnehmen.)

 

Neben dem Geschmack entscheiden vor allem die typischen Eigenschaften der Nahrungsmittel darüber, ob eine Speise bekömmlich und verträglich sowie ausgleichend und stärkend ist oder nicht. Im Ayurveda gibt es sechs Eigenschaften, Gunas genannt, die in drei Gegensatzpaaren zusammengefaßt werden: schwer oder leicht, ölig oder trocken, erhitzend oder kühlend; sie wirken ebenfalls in typischer Weise auf die drei Doshas und damit auf Körper, Geist und Seele.

 

Es sollen die Lebensmittel verzehrt werden, die die energetische Kraft des dominierenden Doshas dämpfen und die der untergeordneten Doshas stärken. Wichtig ist das Vorhandensein aller sechs Rasas und die Beachtung der Gunas, denn die Doshas reagieren äußerst fein auf die ihnen verwandten Rasas und Gunas. Durch die Wahl der entsprechenden Nahrungsmittel können so Vata, Pitta und Kapha ausgeglichen und stabilisiert werden. Die Nahrung wird dann zu einem hochwirksamen Therapeutikum: zu starke Tendenzen werden gedämpft, zu schwache gestärkt. Grundsätzlich wird im Ayurveda eine vegetarische oder sogar vegane Ernährungsweise empfohlen.

 

Der Ayurveda kennt mehrere pflanzliche und mineralische Mittel, die lebensverlängernd und verjüngend wirken. Diese Mittel zur Nahrungs-Ergänzung werden als Rasayanas bezeichnet, was soviel heißt wie „Lebens-Essenz hinzufügen“. Die meisten dieser Mittel sind im Westen unbekannt; dazu gehören aber auch im Westen bekannte wie Honig, Ginseng, Safran und Aloe Vera. Zwei besondere, auch im Westen bekannte Mittel sind Amrit Kalash und Mumijo, auch Shilajit genannt.

 

Die Verdauungskraft wird im Ayurveda als Agni bezeichnet, was soviel heißt wie „Feuer“ oder allgemein „chemische Energie“, aber auch die Bedeutung „Lebensflamme“ hat. Daraus erhellt die Bedeutung der Verdauung: Agni, das „Verdauungsfeuer“, ist eine der wichtigsten Funktionen im Organismus des Menschen. Es sorgt dafür, daß die Nahrung vollständig verwertet wird und daß die Zellen vollständig mit den Nähr- und Vitalstoffen aus der Nahrung versorgt werden. Auch verhindert es die Bildung und Ablagerung von Ama (Gift- und Schadstoffen). Ayurveda kennt mehrere Kräuter und Gewürze, die die Verdauung fördern, also die Qualität des Agni verbessern.

 

Art, Qualität, Kombination und Menge der Lebensmittel sowie Ort, Zeitpunkt und Art und Weise der Nahrungsaufnahme wirken sich unterschiedlich auf unser „Verdauungsfeuer“ und damit auf unsere Gesundheit aus. Vor allem zu viel und zu häufiges Essen, Essen am Abend oder gar in der Nacht sowie Radiohören, Fernsehen, Lesen und Unterhaltung beim Essen schwächen unser „Verdauungsfeuer“, unsere  „Lebensflamme“ und damit unsere Lebenskraft (Vitalität).

 

Soweit diese sehr kurze Einführung in die Klassische Indische Heilkunde, den Ayurveda.  In Teil II werden die Traditionelle Chinesische und die Tibetische Medizin vorgestellt werden.

 

Fußnoten

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2) Ayurveda, sanskrit: „Wissen vom Leben“; aus ayus: Leben und ved(a): Wissen(schaft), Weisheit; „Vollständige, exakte Wissenschaft vom langen, gesunden Leben“.  Ältestes medizinisches System der Menschheit.

3) Yoga, sanskrit: Verbindung, Vereinigung (mit dem göttlichen Ursprung); von yuj: anjochen, anschirren. Eines der sechs orthodoxen philosophischen Systeme (Saddarshana) des klassischen Indien (Samkhya, Yoga, Nyaya, Vaisheshika, Vedanta, Mimamsa). Universal-Wissenschaft, die mittels physischer, psychischer und mentaler Techniken und Methoden zur Vollendung des Menschen und Erkenntnis der absoluten Wahrheit führt.

4) Veda, sanskrit: „Wissen“. Der Begriff Veda bezeichnet im weitesten Sinne die Gesamtheit der alten heiligen Schriften der Hindu, die von den Rishis (Sehern) als Shruti (göttliche Offenbarung) geschaut oder gehört wurden. Dazu gehören die Brahmanas, Arankayas, Upanishaden und der Vedanga (Anhang des Veda), der aber nicht als Shruti, sondern als Smrti (menschlicher Text) gilt. Im engeren Sinne nur die vier Samhitas (Sammlungen) Rig-Veda, Sama-Veda, Yajur-Veda und Atharva-Veda. Der Veda oder die Veden sind die ältesten erhaltenen Texte der Menschheit (ab 1500 v. Chr.)

5) Hatha-Yoga-Pradipika, sanskrit:  „Licht auf Hatha-Yoga“ oder  “Leuchte des Hatha-Yoga“; Quellentext (Anleitung, Erläuterung, Kommentierung) des Hatha-Yoga in 643 Versen in 10 Kapiteln, verfaßt von dem indischen Gelehrten SVATMARAMA im 14. Jhdt.

6) Yoga-Sutra, sanskrit: „Faden des Yoga“; ältester Quellentext (Anleitung, Erläuterung, Kommentierung) des Königlichen Yoga (Raja-Yoga / Ashtanga-Yoga) in 195 Versen / Aphorismen in vier Teilen (Padas), verfaßt von dem indischen Gelehrten PATANJALI im 2. Jhdt. v. Chr.

7) PATANJALI (ca. 2. Jhdt. v. Chr.), indischer Gelehrter und Autor des Yoga-Sutra. Gemäß einer Legende der Hindu eine Inkarnation von Ananta, dem König der Schlangen-Rasse, auch Shesha genannt. Um den Menschen im Auftrag des Gottes Shiva den Yoga zu bringen, fiel (pat) er auf die Handfläche (anjali) einer Jungfrau namens Gonika.

8) Upanishaden, von upa-ni-shad, sanskrit: „nahe sitzen bei (einem Guru / Lehrer)“; Bezeichnung für heilige Schriften der Hindu, die der vedischen Offenbarung (shruti) zugerechnet werden und die Grundlage der philosophischen Schriften des Vedanta („Essenz des Veda“) bilden. Allgemein werden 108 Upanishaden genannt.

9) ANDRÉ VAN LYSEBETH (1919 - 2004), belgischer Yogi, Cela (Schüler) der beiden indischen Yogis und Gurus (spirituelle Lehrer) SVAMI SIVANANDA und SRI KRISHNA PATTHABHI JOIS, war der Wegbereiter des Yoga im Westen und Verfasser mehrerer Standard-Werke über Yoga. Bekannteste Werke: „Yoga für Menschen von heute“, „Durch Yoga zum eigenen Selbst“, „Pranayama – die große Kraft des Atems“, „Tantra für Menschen von heute“.

10) BORIS SACHAROW (1899 - 1959), russischer Yogi, war Cela des indischen Philosophen KRISHNAMURTI und des indischen Yogi SVAMI SIVANANDA, von dem er 1947 den Titel »Yogiraj« („König des Yoga“) verliehen bekam. Er gründete 1921 in Berlin die erste Yoga-Schule Europas, die 1945 im Krieg zerstört wurde. Die 1946 in Bayreuth neugegründete Schule wurde bis 2006 von seinem Nachfolger, dem deutschen Yogi SIGMUND FEUERABENDT, geleitet. Boris Sacharow, Pionier des Yoga im Westen, verunglückte 1959 tödlich. Bekannteste Werke: „Das ist Yoga!“, „Das große Geheimnis“, „Die Öffnung des dritten Auges“, „Kriya-Yoga“, „Indische Körperertüchtigung in 12 Lehrbriefen“.

11) BELLUR KRISHNAMACHAR SUNDARARAJA IYENGAR (* 1918), Cela des großen Hindu-Gelehrten, Ayurveda-Arztes und Yogis TIRUMALAI KRISHNAMACHARYA (1888 - 1989), gilt als die größte lebende Yoga-Koryphäe. Er begründete  den Iyengar-Yoga, eine neue Form und Variante des Hatha-Yoga. Zu seinen Schülern zählten der Violinist Yehudi Menuhin, der Philosoph JIDDU KRISHNAMURTI und der Schriftsteller Aldous Huxley. B. K. S. Iyengar wird zu den 100 einflußreichsten Menschen der Gegenwart gezählt. Bedeutendste Werke: „Licht auf Yoga“, „Licht auf Pranayama“, „Licht fürs Leben“, „Der Baum des Yoga“, „Yoga – der Weg zu Gesundheit und Harmonie“.

12) NOVALIS (1772 - 1801), eigentlich GEORG PHILIPP FRIEDRICH FREIHERR VON HARDENBERG, deutscher Bergbau-Ingenieur, Philosoph, Mystiker, Lyriker / Dichter, Schöpfer der berühmten „Blauen Blume“, dem metaphysischen Symbol der Sehnsucht und Liebe in der Romantik, war Universal-Gelehrter und einer der bedeutendsten Schriftsteller der Frühromantik. Novalis starb jung an Tuberkulose oder Mukoviszidose. Bekannteste Werke: „Geistliche Lieder“, „Hymnen an die Nacht“, „Heinrich von Ofterdingen“, „Die Lehrlinge zu Sais“, „Die Christenheit oder Europa“

13) THEODORE ANTHONY NUGENT (*1948), amerikanischer Hard-Rock-Musiker, galt in den siebziger Jahren als einer der besten E-Gitarristen der Welt (meist auf einer Gibson-Byrdland Semi-Acoustic). Nugent, militanter Nichtraucher, Abstinenzler, Non-Drug-Konsument, Patriot, Waffen-Narr (Lobbyist der National Rifle Association) und passionierter Jäger (Pfeil und Bogen, Armbrust), ist wegen seiner radikalen, „politisch unkorrekten“ Einstellung umstritten.

14) Karma, sanskrit: Tat, Handlung; gemeint sind die Früchte oder Folgen einer Handlung; die akkumulierte Gesamtsumme der Konsequenzen aller Handlungen im Verlauf eines oder mehrerer Leben. Nicht „Schicksal“, sondern „Schaffsal“. Universelles Gesetz des Ausgleiches; Bestandteil der Lehre von der Reinkarnation (Wiedergeburt).

15) psychosomatisch: seelisch bedingte körperliche Beschwerden oder Erkrankungen, oftmals ohne organischen Befund. Beeinträchtigungen von Organ-Funktionen infolge länger andauernder seelischer Belastungen (Dystreß) mit unwillkürlichen, dem Patienten nicht bewußten Veränderungen des vegetativen Nervensystems und neurohumoraler Vorgänge. Psychosomatische Erkrankungen betreffen das Herz-Kreislauf-System, die Atemwege, den Magen-Darm-Urogenital-Trakt, den Schlaf-Wach-Rhythmus und das Immunsystem. Von griechisch psyche: Seele und soma: Körper.

16) Surja-Namaskara, sanskrit: „Gruß an die Sonne“; eine bei Sonnenaufgang durchgeführte, dynamische Yoga-Übung von zwölf fließend ineinander übergehenden Positionen, die als Zyklus beliebig oft wiederholt werden. Sie macht die Muskulatur geschmeidig, die Gelenke flexibel, schult die Balance, massiert die Eingeweide und fördert die Verdauung, normalisiert die Atmung und den Puls und führt zur Ausscheidung von Giften mit dem Schweiß über die Haut. Von Surja: Sonne und Namaskar: Gruß.