Nicht nur Vegetarier und ältere Menschen sind vielfach in Deutschland mit dem lebenswichtigen Vitamin B12 unterversorgt. Das vertrackte ist, dass dieses komplexe Biomolekül unzureichend oder gar nicht in unserer Nahrung steckt.
Von Hans-Jörg Müllenmeister
Oft ist auch der Körper selbst nicht imstande, diesen Schutzherren der Gesundheit aufzunehmen. Auch die Messung des Vitamin B12-Status ist nicht eindeutig. Fakt ist aber: Bei einem Mangel an B12 läuft unser gesamten Organismus ungesund aus dem Ruder – wenn auch mit Zeitverzögerung. Meist bleibt das zunächst unerkannt, denn wir reagieren erst auf gesundheitliche Störungen, wenn unser Körper direkt die Quittung auf unser Fehlverhalten ausschreibt.
Wie wirkt Vitamin B12 in unserem Körper?
Vitamin B12 ist ein wichtiger Helfer unseres Eiweißstoffwechsels. Es übernimmt die Schlüsselrolle für die Funktion der normalen Hirnleistung und für ein intaktes Nervensystem. Außerdem beteiligt sich das Biomolekül bei der Bildung und Regeneration der isolierenden Nevenfaserhüllen (Myelin). Sind diese nämlich nicht intakt, kommt es zu neuropsychiatrischen Störungen; diese können sich ausweiten bis hin zu Depressionen und Demenz.
Das Biomolekül dient der Bildung roter Blutkörperchen und reguliert die Zellteilung nebst Zellwachstum. Auch für die Bildung der Erbsubstanzen DNA und RNA ist es mitverantwortlich.
Vitamin B12 schützt das Herz-Kreislaufsystem: Gemeinsam mit den Biopartnern Vitamin B6 und Folsäure wandelt es die gefährliche Aminosäure Homocystein in das ungiftige Methionin um, denn ein zu hoher Homocystein-Spiegel kann Arteriosklerose, also Arterienverkalkung auslösen. Hohe Homocystein-Werte gelten als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Die Gallensäure schleust das Vitamin B12 in den Dünndarm. Dort im letzten Krummdarm-Abschnitt, dem Ileum, tritt das wasserlösliche Vitamin ins Blut über. Dieser aktive Aufnahmeprozess findet aber nur statt, wenn Bauchspeicheldrüse und Magenschleimhaut das Transporteiweiß Glykoprotein ‒ den sogenannten Intrinsische-Faktor ‒ bereit stellen. Dieser „Transporter“ verpackt das Vitamin so, dass es vor Verdauungsenzymen geschützt ist: Jetzt erst kann das Vitamin B12 durch die Darmschleimhaut ins Blut eindringen. Selbst wenn das Blutserum genug Vitamin B12 bekommt, muss es erst an passende Eiweiße gebunden sein, damit es die Körperzellen aufnehmen können.
Vitamin B12, seine Struktur und seine Symbiosepartner
Vergleichen wir einmal den komplexen und gewichtigen Strukturaufbau des Vitamin B12 mit der Leichtbauweise des allbekannten Vitamin C. Bildlich steht sich hier ein Wolkenkratzer einer windigen Bretterhütte gegenüber. Im Zentrum der B12-Bandwurm-Strukturformel C72H100CoN18O17P ruht ein zwei- oder dreifach geladenes Kobalt-Ion: der einzigartige Kobalt-haltige biologische Naturstoff!
Kein tierischer oder pflanzlicher Organismus ist imstande, diesen „Mikro-Wolkenkratzer“ herzustellen. Indes kann ein „Stubentiger“ leicht Vitamin C selbst erzeugen. Erst wenn man in den Mikrokosmos hinuntersteigt, finden sich Mikroorganismen, also Bakterien, die das Vitamin B12-Gebilde errichten können. Wie die Mikros ein Kobalt-Atom aufspüren und es schaffen, die weitere Elementen C, H, N, O und P so strukturiert um sich zu scharen, dass ein verwickeltes Gebilde wie das Vitamin B12 entsteht, gehört zu den vielen Wundern der Natur. Übrigens, das Spurenelement Kobalt im Molekül-Zentrum ist im chemischen Verhalten dem Eisen und Nickel sehr ähnlich.
B12-bildende Bakterien kommen als Symbionten sowohl im Verdauungstrakt von Tier und Mensch vor, aber auch auf Oberflächen pflanzlicher Wirte. Symbionten sind die kleineren der beiden an einer Symbiose beteiligten Arten; den Partner mit dem größeren Körper nennt man Wirt.
Merkwürdig ist, dass unser Dickdarm zwar Vitamin B12 bilden kann, es aber ungenutzt, also nicht absorbiert ans Tageslicht befördert – zu spät, Du rettest den Freund nicht mehr.
B12-Vorkommen
Größere B12-Mengen sind in tierischen Innereien wie Leber, Niere und Herz enthalten, ebenso in Fisch, Milchprodukte, Käse und Eier. Muscheln und Austern sind sehr B12-reich, weil sie grosse Mengen von Vitamin B12 produzierenden Mikroorganismen aus dem Meer abschöpfen.
Pflanzliche Nahrung ist Vitamin B12-frei, sieht man von bakterieller Oberflächen-Verunreinigung ab. Der Mythos, wonach milchsauer vergorene Lebensmittel wie Sauerkraut und Rote Bete, fermentierte Lebensmittel, Lupine-Produkte oder Algen Vitamin B12 enthalten, stützt sich auf undifferenzierte Messmethoden mit überholten und fehleranfälligen Analysemethoden. Inzwischen weiß man, dass es sich dabei um inaktive Pseudo-B12-Vitamine, so genannte Analoga handelt. Diese kann der menschlichen Stoffwechsel nicht verwerten, ja sogar die Aufnahme von Vitamin B12 behindern, da sie wichtige B12-Transportmoleküle im Körper besetzen.
Und dieses recht junge Messergebnis interessiert bestimmt wandelnde Biotonnen, wie ich uns Veganer und Vegetarier nenne: Die Totentrompete, ein schmackhafter Speisepilz und auch der Pfifferling enthalten 1 bis 2,5 µg Vitamin B12 pro 100 g Trockenmasse, und zwar definitiv keine Analoga, sondern aktives Vitamin B12. Angeblich ist nur eine der Algen, nämlich die Chorella, ein verlässlicher B12-Quell mit einem Gehalt von 80 µg Vitamin B12 pro 100 g Trockenmasse; zum Vergleich: Kalbsleber enthält 60 µg/100g.
Übrigens kursierte seinerzeit die Meinung, dass die südindische Bevölkerung, trotz überwiegend vegetarischer Ernährung nicht an B12-Mangel leide; das galt bis zum Aufkommen moderner Sterilisations- und Lagertechniken. Klar, die Leute versorgten sich mit unbekannten B12-Quellen: Exkremente und Teile von Insekten im gelagerten Getreide und in den Hülsenfrüchten. So erkalteten viele Inder eben eher an Vergiftungen als an B12-Mangel.
Vitamin B12 (Cobalamin) in verschiedenen Bauweisen
Chemisch rein kommt Cobalamin – im folgenden abgekürzt mit Co. – so gut wie nie vor. Meist ist es an andere Moleküle gebunden. Diese Bindungspartner bestimmen auch die Namen der so entstehenden B12-Formen.
Adenosyl-Co. (in der Leber gespeichert) und Hydroxo-Co. sind die häufigsten Formen in Fleisch, während Methyl-Co. besonders in Milchprodukten vorkommt.
Methyl-Co. wirkt dabei im Zellplasma, während Adenosyl-Co. nur in den Mitochondrien aktiv ist. Hydroxo-Co. ist zwar selbst keine Coenzym-Form von Vitamin B12, der Körper kann es aber in eine der anderen Formen umwandeln. Es bindet sich besonders gut an die Transportmoleküle des Körpers, so dass es sehr lange zirkuliert und dadurch von allen B12-Formen die beste Depotwirkung hat.
Andere Formen von Vitamin B12 finden sich in Nahrungsmitteln nur selten und nur in Spuren.
Die Leber speichert Vitamin B12 durch das Protein Trans-Co. Ist dieses Depot gut gefüllt, kann ein Mangel über Jahre vom Körper ausgeglichen werden. Das ist der Grund, warum eine B12-Unterversorgung zunächst lange Zeit unentdeckt bleibt.
Symptome bei Vitamin B12-Mangel
B12-Mangel entsteht durch unzureichende Zufuhr mit der Nahrung, durch unzureichende Resorption oder durch gewisse Medikamente. Die Folgen:
erkranktes Blutbild, geschädigtes Zentralnervensystems, gestörte Dünndarmflora und Leberfunktion, erkrankter Magen-Darmtrakt.
Erste Anzeichen eines B12-Mangels sind Müdigkeit, Depression, Konzentrationsschwäche, Taubheitsgefühl oder Kribbeln in den Gliedmaßen. Schlafstörungen, Allergie- und Infektanfälligkeit, beschleunigte Alterung und allmähliche Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustandes. Symptome sind auch blasse Haut, Zungenbrennen, eingeschlafene Hände und Füße, Geruchs- und Geschmacksverlust.
Im fortgeschrittenen Stadium kann es zu Muskelschwäche und Verwirrung kommen. Die Fähigkeit zum Denken lässt nach; manchem gelingt das auch ohne B12-Mangel. Auch Senilität und Demenz können ihre Ursachen im Vitamin-B12-Mangel haben. Übrigens, wenn Sie an Schlafstörungen leiden, sollten Sie versuchen mehr B12 in Form von Methyl-Co. aufzunehmen, es unterstützt nämlich das Schlaf-Hormon Melatonin.
Vitamin B12 Diagnosemöglichkeit
Sie können den eigenen Vitamin-B12-Status mit dem Morgen-Urintest überprüfen. Diesen Labortest können Sie im Internet oder in der Apotheke bestellen und zu Hause selbst durchführen: Der Gehalt an Methylmalonsäure wird gemessen; er ist bei einem Vitamin B12-Mangel erhöht. Dieser ist indirekt ein zuverlässige Marker für einen Vitamin B12-Mangel. Kosten: 45 bis 60 €, keine Krankenkassenübernahme. Als Grenzwerte sind 2 mg/g Kreatin und 2,6 mg/g Kreatin von den Labors angegeben. Dieser Test ist dringend älteren Menschen sowie Vegetariern und Veganern anzuraten, erst recht Patienten mit Anämie, Demenz, Multipler Sklerose, Fibromyalgie und chronischer Müdigkeit.
Lassen Sie vom Weißkittel Ihren Vitamin-B12-Spiegel nicht durch einen Blutserumtest durchführen, denn hier werden mögliche inaktive B12-Formen mitgemessen, die der Körper eh nicht verwerten kann.
Die Weißkittelzunft ist sich uneins über den unteren B12-Grenzwert. Man geht von einem Wert im Blutspiegel von 200 bis 550 pg/ml als Indikation für B12-Mangel aus. Hier zeigen sich womöglich Mangelsymptome der bösartigen, so genannten perniziösen Anämie, Demenz und Gedächtnisschwund. Normal wären Blutspiegel von 500 bis 1300 pg/ml.
Cyano-Co. versus Methyl-Co.
Der Stoffwechsel für alle B12-Formen ist recht unterschiedlich und auch die Wirkung der einzelnen Formen unterscheidet sich in der Tat sehr deutlich. Studien zeigten, dass der Körper Methyl-Co.-Präparate direkt und besser verwertet als Cyano-Co. Bei vergleichbaren oralen Dosen wies man im Serum zunächst fast identische Konzentrationen nach. Während große Mengen von Cyano-Co. unverwertet direkt in den menschlichen Abwasserkanal geraten, erhöhte sich bei Methyl-Co. das zelluläre Vitamin B12 und die Körperspeicher füllten sich. Zudem ließen sich mit Methyl-Co. einige gesundheitliche Effekte erzielen, die mit Cyano-Co. nicht möglich sind. In Tierversuchen zeigte sich, dass Methyl-Co. die Überlebensrate von Mäusen mit Krebs deutlich verlängert, während Cyano-Co. völlig wirkungslos blieb.
Selbst Hydroxo-Co. (Standard-Vitamin-B12 Präparat für Injektionen) hat einige Vorteile, dabei sind besonders die Entgiftungswirkung (Cyanid, Nitrid) und die herausragende Depotwirkung interessant; sie stellen eine lang anhaltende B12-Versorgung sicher. Zudem verwertet der Körper es leichter als Cyano-Co.
B12-Bedarf und Speicherung
Im Vergleich zu den meisten der anderen Vitaminen ist unser täglicher Mindestbedarf an B12 äußerst gering, nämlich nur bis zu drei Mikrogramm. Das ist nicht mal das Gewicht von drei roten Blutkörperchen. Ein gesunder Mensch speichert in der Muskulatur und in der Leber bis zu 40 mg Vitamin B12. Unser Körper kann sich an B12 nicht „übergessen“; nicht benötigte Mengen, werden einfach mit dem Urin ausgeschieden. Ein gefülltes Leber-Depot reicht aus, um eine Unterversorgung über mehrere Jahre hinweg auszugleichen. Diese Vorräte werden bei einer Vitamin B12-armen Ernährung zuerst geplündert. Daher machen sich die Symptome eines Vitamin B12-Mangels erst nach Jahren bemerkbar. Ist aber Ihr Stoffwechsel durch ein vermindertes Vitamin B12-Angebot gestört, scheiden Sie vermehrt im Urin Methylmalonsäure aus. Wer vegan lebt, muss eben mit einem Vitamin B12-Mangel rechnen. Übrigens, unser Körper ist ein „B12-Wiederkäuer“, denn über 75% des verbrauchten B12 kann er wiederverwerten ‒ der eine mehr, der andere weniger.
Absorptionsprozess des Vitamin B12
Im Prinzip sind eine ganze Kette von verwickelter Prozesse und Faktoren nötig, um Vitamin B12 aufzuschließen und es in die Zelle zu geleiten.
Gebricht es an Pepsin, Salzsäure im Magen, R-Protein, Pankreas-Enzyme, dem intrinsischer Faktor, an Kalzium und Zellrezeptoren, führt das letztlich zu einem B12-Mangel: die B12-Aufnahme ist blockiert. Im Blut angelangt, binden sich Transportproteine an das Vitamin B12 und geleiten es in die Zellen. Hier befreien Enzyme das Vitamin vom Proteinkomplex und wandeln es in seine zwei Coenzym-Formen um: in Methyl-Co. und Adenosyl-Co.
Die Natur hat noch einen direkten Grenzübergang parat, denn bis zu 5% des freien Vitamin B12 nimmt der Körper durch einen passiven Diffusionsprozess auf.
Vitamin-Aufnahme verweigert: perniziöse Anämie
Bösartige Anämie tritt auf, wenn ein Mensch kein B12 aufnehmen kann, denn ihm fehlt der weiter oben genannte intrinsische Faktor. Die häufigste Ursache einer besonderen Anämie ist eine Autoimmun-Reaktion; sie attackiert und zerstört Magenzellen, die ja den intrinsischen Faktor produzieren. Die Krankheit ist gekennzeichnet durch unreife, abnormal grosse rote Blutkörperchen (Makrocyten), die den Sauerstoff schlecht transportieren und durch weiße Blutkörperchen mit abnormalen Zellkernen.
Frühe Symptome sind Blässe, Schwäche und Müdigkeit. Schwere perniziöse Anämie verursacht Kurzatmigkeit, Schwindel und einen schnellen Herzschlag. Jemand der an perniziöser Anämie leidet, brauchen sehr hohe Mengen B12, um den Mangel an intrinsischem Faktor zu überwinden.
Der Universalist Vitamin B12 ist längst noch nicht erforscht
Vieles ist in der B12-Forschung noch im Fluss, viele Erkrankungen wie Alzheimer, Grüner Star, Taubheit, Tinnitus, Multiple Sklerose, Dermatitis und auch Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Herzinfarkt sind damit assoziiert, also verknüpft mit einem niedrigen Vitamin B12-Spiegel. In einer neuen Studie über geriatrische Patienten hatten 43% von ihnen B12-Spiegel, die tiefer als 295 pmol/L waren.
Bekannt ist auch, dass B12 hilft, die durch Strahlung und Oxidation beschädigte DNA zu reparieren. Würde es gelingen, B12 mit Zellgiften wie etwa Stickoxid biochemisch zu verbinden und in Tumorzellen freizusetzen, würden sich entartete Zellen wieder an das Fremdwort „Apoptose“, ihren natürlichen Zelltod erinnern und freiwillig ausscheiden.
B12-Supplemente statt Cholesterin-Hype
Die an den Saugnäpfen der Pharmakraken haftende Weißkittelzunft hat sich heute auf den Gesamtcholesterinwerte von unter 200 mg/dl als Gesundheitsmarker kapriziert. Diese permanente „Geschäftsidee“ verspricht Riesengewinne mit teuren, lebenslänglich verabreichten cholesterinsenkenden Statinen. Wäre es aber nicht effizienter, besonders ältere Menschen auf B12 zu testen – für einen Bruchteil der Kosten? Ein routinemässiger frühzeitiger Test auf B12, wenn nötig dann mit einer B12-Ergänzung, könnte so den mentalen Abbau bei einem Großteil der älteren Leute verhindern.
Da Vitamin B12-Nahrungsergänzungsmittel exakt gleich produziert werden wie in der Natur, nämlich durch bakterielle Fermentierung, ist die Gefahr von hohen Dosen meist vernachlässigbar. B12-Ergänzungsmittel haben das Zeug, das Leben eines Großteils in der Bevölkerung, vor allem der älteren Leute zu verbessern.